Refugium in Nidden: Thomas Mann auf der Kurischen Nehrung
1920 dann heiratet der Maler Ernst Mollenhauer die Tochter des Hoteliers Blode, übernimmt 1924 dessen Gasthaus in schwieriger Zeit. Nidden, das nur per Schiff über das Haff erreicht werden kann, sieht sich inzwischen wie das Memelland von Litauen annektiert, viele Königsberger Stammgäste bleiben aus. Mollenhauer kann die renommierte Restauration nur dank seiner in Amerika verdienten harten Dollar über Wasser halten. In diese Herberge – in das einzig angemessene Etablissement in der verloren vor sich hin träumenden Sommerfrische am Meer – verschlägt es die Manns nach kurzer Überfahrt aus Rauschen an einem schwülen Sommertag vor über 70 Jahren.
Nidden wird für den “Zauberer” zur Liebe auf den ersten Blick. Der Spaziergang nach dem Essen bei Mollenhauer führt ganz zufällig auf den nur einen Steinwurf vom Gasthaus entfernten “Schwiegermutterberg”. Dort bemerkt er den “erstaunlich südlichen Einschlag” der Landschaft. Blick auf das mittelmeerblaue Haff zwischen an Pinien erinnernde Kiefern hindurch. Dazwischen Sanddorn und Ginster. Thomas Mann schreibt in seinem Lebensabriss, man sei von der unbeschreiblichen Eigenart dieser Natur, einer phantastischen Welt der Wanderdünen, der von Elchen bewohnten Kiefern- und Birkenwälder zwischen Haff und Ostsee und der wilden Großartigkeit des Strandes so ergriffen gewesen, dass man entschied, an so entlegener Stelle einen festen Wohnsitz zu schaffen.
Danach geht alles sehr schnell. Die litauische Forstverwaltung stellt dem Nobelpreisträger sofort Pachtgrund auf dem “Schwiegermutterberg” für 99 Jahre zur Verfügung. Der Memeler Architekt Reissmann wird mit dem Bau eines Sommerhauses im Stil der Niddener Fischerhäuser beauftragt, nach einem Jahr schaukelt die Richtkrone im Wind.
Am 16. Juli 1930 reist das Ehepaar Mann mit den jüngsten Kindern Michael und Elisabeth sowie einer Haushälterin an: 8.00 Uhr von Königsberg nach Cranz, dort hat man Anschluss an den Postdampfer der Memel-Cranzer-Dampfschifffahrtsgesellschaft. Das neue Haus lässt sich schon lange vor der Ankunft vom Haff aus sehen. Die Einwohnerschaft Niddens wartet am Anlegesteg, eine Kutsche für die prominenten Gäste steht bereit. Soviel Aufmerksamkeit wie Luft zum Atmen.
“Wir kamen an und saßen auf der Veranda des Häuschens, als ob es schon immer so gewesen wäre”, schreibt Thomas Mann über den ersten Tag im Sommerhaus. Ein bescheidenes Domizil, strohgedeckt, mit heidnisch gekreuzten Pferdeköpfen, genau wie die Fenster im leuchtenden Niddener Blau gestrichen. Der Dichter fühlt sich wohl in diesem Refugium, in seiner “sommerlichen Heimat”, wie er den Ort nennt. Vor allem ist da wieder das Meer, “das man überall hört und zu dem alle Wege hinzu führen und zu dem ich jeden Tag nach meiner Arbeit hinübergehe”. Seltener äußert er sich über die bizarre Schönheit der Nehrung selbst, nur vor seinen Münchener Rotarierkollegen trägt er ungewöhnlich bescheiden vor: “Meine Worte können Ihnen keine Vorstellung von der eigenartigen Primitivität und dem großartigen Reiz des Landes geben. Ich möchte mich hier auf Wilhelm von Humboldt berufen …”
Katja und Thomas Mann schätzen es, in Nidden die schillernden Berühmtheiten zu sein, um die sich alles dreht. Die Künstlerkolonie liefert dazu das schickliche Passepartout, bei aller Wertschätzung liegt ihre Reputation doch gehörig unter der Noblesse des Nobelpreisträgers, der sich als Personifizierung deutschen Geistes sieht – stets bedacht auf die Pflege seiner überragenden Bedeutsamkeit.
Drei Sommer lang erholt man sich in Nidden in der Mansarde des Sommerhauses, die einen weiten Blick über das Haff erlaubt, entstehen Teile des Joseph-Romans sowie Essays und Briefe. Nachmittags zieht die Familie ans Meer, die Kinder toben beim Indianerspiel durch die Dünen, der Dichter schwelgt im “Elementarischen” und vergleicht die Nehrungswälder mit Beschreibungen Turgenjews. Das Meer und der Strand sind seine Landschaft, unendlich, klar, aber doch voller Träume …
Dennoch, nicht einmal Nidden erweist sich als abgeschieden genug, um das in Deutschland heraufziehende Unheil zu übersehen Die Königsberger Geschehnisse um die Reichtagswahl 1932, als der SA-Mob politische Gegner jagt und ermordet, veranlassen den damals eher nationalkonservativ eingestellten Thomas Mann zu energischem Protest – eine seiner letzten Niddener Arbeiten ist die Denkschrift “Was wir verlangen müssen”.
Am 4. September 1932 besteigen die Manns letztmalig den Dampfer nach Cranz – sie werden ihr Sommerparadies nie wieder sehen.
Der erwähnte Ernst Mollenhauer betreut Onkel Toms Hütte zunächst weiter, bis Hitler 1939 das Memelland “Heim ins Reich” holt. Mollenhauers Bilder werden nun als “entartet” abgestempelt, er erhält Ausstellungsverbot. Die Weigerung, sein Hotel, der NSDAP zu öffnen, führt zu ständiger Schikane und Bedrohung, bis Reichsjägermeister Herrmann Göring das Sommerhaus der Manns als Jagdhaus Elchwald seinen Besitzungen zuschlägt, ohne die erbeutete Herberge jemals zu bewohnen. Statt des Reichsmarschalls wird Rüstungsminister Albert Speer dort oft gesehen.
Nach dem Krieg ist der Erhalt des Mann-Hauses vor allem den Bemühungen des litauischen Schriftstellers Antanas Venclova zu danken, der 1967 gegenüber den sowjetischen Behörden die Umwandlung in eine Gedenkstätte durchsetzt. Es ist der Name Thomas Manns, der auch unter litauischen Intellektuellen ein hohes Renommee genießt, dessen Unangreifbarkeit in den Zeiten geistiger Abschottung, Schutz für Lesungen und Diskussionen im Niddener Hause bietet. Schon in den siebziger Jahren werden so Weichen für das heutige Kulturleben Litauens gestellt.
Ingredienzen der Erinnerung sind heute rar im kurzlebigen Sommer-Domizil der Manns. Kein Schreibtisch verstaubt, den ein Hauch des Genies umwehen könnte – nur den inspirierenden Italienblick auf das Meer gibt es wie damals. Das Mobiliar von einst ging verloren, doch vermitteln viele Dokumente und Fotos eine Vorstellung davon, wie es zugegangen ist im Hause Mann, als “das Meer und die Musik” eine Gefühlsverbindung für immer eingingen …
Nach einer Sanierung wurde das Niddener Haus 1995 zum Sitz eines Thomas-Mann-Kulturzentrums
s.Erschienen in “Der Freitag”, 21.01.2001