Das Galinderdorf

Pruzzengötter  Patolos, Perkunos und Potrimpos nach Hartknoch und Grunau, CC-PD

Es war einmal ein Land, das weit, weit hinter dem großen Strom lag, den man Weichsel nannte. Geschützt von tiefen, undurchdringlichen Urwäldern lag das Land jenseits der bekannten Welt. Viele tausend Seen hatte das Land, und man hieß es die Große Wildnis.

Auch lebten Menschen in diesem Land, zwölf Völker waren es, Prussen wurden sie genannt. Sie waren Stämme von Freien und lebten in Eintracht auch ohne einen obersten Herren. Es einte sie der Glaube, dem Kriwe, wie sie ihren obersten Priester hießen, huldigten sie in Romowe, dem heiligen Hain. Ihre Priester und Priesterinnen – denn es gab auch Frauen unter ihnen – nannten die Prussen Kriwaiten, die wissenden und heiligen Männer, die in den Dörfern lehrten was gut war und was es zu feiern galt, hießen Waidelotten.

Es waren lebensfrohe, allen Sinnenfreuden zugetane Völker, deren höchster Gottesdienst das Fest war, mit reger Beteiligung von Männern und Frauen an mehrtägigen Gelagen und üppigen Festmahlen.

Ihre Hauptgötter hießen Perkunos, Potrimpos und Pikollos, auch kannten sie zahlreiche Neben- und Untergötter. Der wichtigste von allen aber war Perkunos, dem sie opferten und der sich den Kriwaiten durch Blitz und Donner offenbarte. Ihre Riten und Bräuche waren einfach, erwarteten keine Buße und Bescheidung von den Prussen, im Gegenteil, sie waren lebensnah und hoben die Lebensfreude.

Mitten in diesem Lande lebte Bartko, der Galinder mit den Seinen in einem Dorf am langen See, genau dort, wo der Fluss hineinmündete.

Das Land gab ihnen alles, was sie brauchten, die dichten Wälder waren wildreich und quollen über von Pilzen und Beeren. Die Gewässer waren fischreich, sie waren Fischer und Jäger, hielten nur wenig Vieh und trieben kaum Ackerbau.

Trotz aller Reichtümer der Natur kannten sie auch schwere Zeiten, wenn die Winter so hart waren, das der Schnee ihre Hütten begrub und die Eisdecke so dick war, dass sie kaum ein Loch hineinschlagen konnten um an ihre Lieblingsspeise zu kommen: köstliche Maränen. Dann blieb ihnen nur der Fluss zum Fischen, denn der floss so schnell, dass er niemals zufror.

Jedoch waren sie zufrieden mit dem, was sie hatten, Reichtum kannten sie nicht einmal dem Worte nach, Besitz galt wenig und so war ihnen Missgunst fremd. Den Reichtum, den sie schätzten, gab ihnen der See, verlockend zarte Maränen zum Festmahl und Krebse schenkte der Fluss.

So lebten sie zufrieden viele Jahrhunderte lang in ihrem abgeschiedenen Dorf, wussten nicht viel von der übrigen Welt, nur zweimal nahmen je drei Krieger an den Kämpfer mit den entfernten Nachbarn der Galinder, den Masowiern teil. Jedoch auch sie kehrten in ihr Dorf zurück und wollten nichts wissen von der Fremde.

Eines Tages aber brachten die Kriwaiten bedrohliche Nachrichten mit vom Kriwe in Romowe. Die prussischen Brüder, die dort lebten, wo die Abendsonne sich senkte, waren in großer Bedrängnis, angegriffen von einem mächtigen, ganz unbekannten Heere.

Die Kriwaiten riefen zum Krawul, wie die Galinder die große Dorfversammlung nannten, und lange saßen alle beisammen, wogen ab, beratschlagten, und fassten einen Entschluss.

Bartko galt als tapferer Krieger und besonnener Mann, Weisheit wurde ihm nachgesagt. Er sollte zum Heerführer gehen, dem Reiks, und bereden, was zu tun war. Denn sie lebten weit entfernt von den anderen Dörfern, ganz allein und schutzlos.

Bartko tat, wie ihm aufgetragen ward und wanderte ein paar Tage lang dorthin, wo morgens die Sonne aufgeht und hinter dem großen Buchenwald fand er auf einer kreisrunden Lichtung das große Heerlager der Brüder und der anderen Brudervölker.

Er besprach mit dem Reiks, was zu besprechen war. Nein Bruder, ihr braucht keine Krieger zu stellen, antwortete ihm der Reiks, schützt euch nur selbst, denn wir können euch nicht helfen, können nicht zersplittern die Kriegsmacht, zu Ernst ist die Lage.

Beunruhigt eilte sich Bartko heimzukehren in sein Dorf am See. Rasch kamen sie zusammen beim Krawul und ließen Bartko berichten, was der Reiks gesagt. Was sollte geschehen, was blieb zu tun? Klein war das Dorf, nur ein paar Dutzend Familien, wie sollten sie kämpfen gegen solche Übermacht?

Es war Bartkos Vorschlag, den sie annahmen, dem sie nun folgen wollten. Fort wollten sie vom See, den man mit Schiffen befahren konnte, hier würden die Feinde sie finden und töten.

In Eile packten sie zusammen, was nötig war, brachen ab, was abzubrechen möglich. Zuletzt steckten sie ihr Dorf an, brannten es nieder, bis nichts mehr sie verriet. Schon im Frühling würde keine Spur mehr verraten, dass sie einst hier gelebt hatten.

Sie zogen am Fluss entlang, von Bartko geführt, immer weiter an den dicht bewachsenen Ufern entlang, sich mühsam den Weg durch Urwald bahnend bis sie nach vielen Tagen an einen Bogen kamen, auf dessen hohem Ufer sie siedeln wollten. Sie bauten ein neues Dorf, das auf dem steil aufragenden Hügel besser zu verteidigen war, als das alte. Sie waren sicher, dass kein Mensch hier je gewesen war, niemand sie verraten konnte. Ja, hier würden sie überleben den Sturm.

Auch diese Wälder waren voll von Beeren und Pilzen, die Jäger fanden reiche Beute, das Vieh fette Weiden und der flache Fluss quoll über von Fischen. So richteten sie sich ein und lebten ihr alltägliches Leben. Bartko blieb Zeit seines langen Lebens ein von den Göttern gesegneter und von den Kriwaiten und Brüdern geschätzter Mann. Nur manchmal, da sehnte  sich der kleine Galinderstamm nach der Weite des Sees und den köstlichen Maränen, denn die gab es nicht im Fluss.

So lebten sie viele Jahre ganz für sich und in Frieden. Doch dann riefen die Kriwaiten zum Krawul. Auch die Waidelotten hätten in ihrer Weisheit gesagt, so ginge es nicht mehr lange weiter, wären sie doch nun bald alle miteinander verwandt. Frisches Blut müsse her, Frauen aus den alten Nachbardörfern. Auch solle man den Kriwe in Romowe aufsuchen und schauen wie es den Brüdern geht. Vielleicht können man ja auch wieder an den See zurückkehren.

Bartko, der schon sehr alt war und ein weiser Mann, stimmte dem zu. Seine Söhne Kaystute und Glande bräuchten Frauen und einer von ihnen solle sich aufmachen, die Brüder zu suchen und vielleicht auch ein paar köstliche Maränen mitbringen.

Die Wahl fiel auf Kaystute, den älteren, bedächtigeren der Söhne Bartkos. Glande neidete seinem Bruder das Abenteuer nicht, denn er sollte einstweilen den greisen Vater allein vertreten und das Dorf als oberster Krieger schützen.

Kaystute wanderte viele Tage auf dem Weg, den sein Vater ihm beschrieben hatte, zuerst am Fluss entlang, dann durch den dichten Wald hindurch, bis er an den See kam, den er selbst noch nie gesehen hatte. Dort sollte er der Abendsonnen folgend am Ufer entlang wandern, bis er zu einem großen Dorf kam, das die galindischen Brüder bewohnten.

Kaystute tat, wie ihm vom Vater aufgetragen und erreichte das Dorf, aber er war  nicht sicher, ob er den Weg nicht doch verfehlt hatte, denn es war so ganz anders, als der Vater und die Waidelotten es beschrieben hatten.

Viele Menschen sah er dort in merkwürdigen Kleidern und wenn sie redeten, verstand er sie nicht. Eine große Burg stand dort, aus rotem Stein gebaut, nicht aus hölzernem Hakelwerk, wie der Vater sie ihm beschrieben hatte. Sie bauten gerade ein merkwürdiges, wuchtiges  Haus auch aus dem roten Stein, mit einem Turm daran, aber eine Burg war das nicht.

Wen er auch fragte, was es damit auf sich hätte, lief weg oder legte die Hand auf die Lippen um ihm zu bedeuten, dass er schweigen möge. Als er einen jungen, so seltsam mit einem glitzernden, steifen Hemd aus lauter kleinen Ringen gekleideten Krieger fragte, schlug dieser ihn, dem fliehenden Kaystute Unverständliches nachbrüllend. Von nun an schaute sich Kaystute schweigend um, bis er am Rand des großen Dorfes auf zwei Männer traf, die sehr leise in seiner vertrauten Sprache miteinander redeten. Brüder, rief Kaystute erleichtert, endlich habe ich Euch gefunden.

Die beiden erschreckten Galinder zogen ihn fort in den nahen Wald, wo sie ungestört reden konnten. Woher kommst Du Bruder, weißt Du denn nicht, dass wir schon viele Jahre in Knechtschaft  leben? Der Feind war gar zu übermächtig, wir konnten nicht standhalten. Die Herrschaft war so grausam, dass wir uns bald erhoben , aber wir waren zu schwach.

Keinen Reiks, keinen Kriwe, kein Romowe gab es mehr, erfuhr Kaystute, und dem alten Glauben der Väter hätten sie auch abschwören müssen.

Das rote Haus, das du sahst, ist der Herren neues Romowe, in dem nur noch ein Gott mit seinem Sohn wohnt. Aber er wird nicht richtig gefeiert, keine Festmahle ihm zu Ehren, keine Trinkgelage. Er muss darob ein sehr trauriger Gott sein und verbietet viel, keine Freude ist in dem neuen Glauben.

Das Leben sei traurig und voller Gefahren, ständig würden alle Galinder bewacht, ob sie gar dem alten Glauben noch anhingen und den Göttern wohl doch opferten, berichteten die Brüder. Erst wenn die neuen Herren dereinst ganz sicher sein, dass kein Galinder mehr fehle gegen den neuen Gott, dürften sie leben, wie die anderen Menschen auch, die jetzt in so großer Zahl in ihr Land kämen. Nur wenn sie eine Fremde freien, einen Fremden zum Manne nähmen würden und Christenkinder bekämen, dürften Galinder noch unbehelligt leben, verkündete uns allen ihr Kriwe, der Bischof heißt. Unser Dorf aber strafen sie besonders, weil wir so lange widerstanden.

Die Brüder hatten Vertrauen gefasst und nahmen Kaystute mit in ihr Haus, die Wirtschaft dort führten die Schwestern, denn die Eltern waren schon vor langer Zeit von den Christen – so heißen die neuen Herren – erschlagen worden.

Was tragt ihr für Namen, sie klingen so fremd, Heinrich, Georg, Maria und Johanne, ich hörte sie nie unter Brüdern fragte Kaystute. Ach Bruder, die alten Namen, bei denen uns einst die Eltern riefen, haben wir schon vergessen, dürfen die nicht tragen. Nur bei den neuen Namen dürfen wir uns nennen, die ihrem Gott gefallen, denn bei diesen Namen wurden einst ihre Waidelotten und heiligen Männer gerufen, klagte Georg.

Warum sind eure Schwestern noch hier und Jungfern, hat keiner der Brüder Gefallen an ihnen gefunden, begehrte Kaystute zu wissen. Oh Bruder, kein Bruder darf sie freien in unserem Dorf, auch wir dürfen der Brüder Schwester nicht nehmen zur Frau. Ich sagte dir doch, unser Dorf trifft besondere Strafe, keiner Galinderin ist es bei uns erlaubt, einen Galinder zum Manne zu nehmen. Lieber verdorren wollen die beiden stolzen Schwestern, als Fremde zum Mann zu erwählen, erklärte ihm Heinrich.

Du sprachst von Glande, deinem Bruder, der auch noch unbeweibt ist, sagte Heinrich, nimm beide Mädchen mit, bevor sie verblühen und macht sie zu eurem Frauen. Sie sind uns teuer, wir wollen keinen Preis, wie es sonst Brauch war. Wenn wir sie nur unter Brüdern wissen, ist es Gabe genug. Bartko, der Name deines Vaters hat noch immer einen guten Klang bei den Alten, das sei uns Gewähr genug.

Kaystute tat, wie erbeten und machte sich mit Maria und Johanne auf den Heimweg, nicht ohne an reichlich Maränen für den Vater gedacht zu haben. Der Weg war beschwerlich mit all den Lasten, auch die Frauen trugen schwer, sie kamen langsam, aber stetig voran. Während die Mädchen sich des Abends am Lager erholten und das Feuer hüteten, jagte Kaystute und sammelte Beeren im Wald. Die Gesellschaft der Mädchen wurde ihm lieb, sie klagten nicht und er musste die weite Reise nicht allein machen. Voll Gefallen schaute er auf Maria, die seinen Blick scheu erwiderte.

Am Feuer erzählte er von seinem Vater Bartko und Glande, dem Bruder, den er der errötenden Johanne als guten Mann verhieß. Denn als sie das versteckte Galinderdorf erreichten, hatte sein Herz sich längst  entschieden, Maria wollte er heimführen.

Frohen Herzens begrüßen ihn Bartko der Vater und Glande der Bruder, zufrieden mit der Wahl Kaystutes. Ein altem Brauch nach wurde drei Tage gefeiert, mit üppigen Festmahlen und fröhlichen Gelagen, auch Perkunos ward reichlich geopfert, auf dass er die jungen Paare behüten möge. Auch die Kriwaiten nahmen die jungen Töchter in die Gemeinschaft auf und aeben Kaystute und Glande ihren Segen.

Bartkos Haus war nun bestellt und für die Nachkommen war im nicht bange. Zufrieden betrachtete er seine wohlgeratenen Söhne Kaystute und Glande, die Götter waren ihm gnädig gewesen.

Beim Krawul lauschen alle gespannt Kaystutes Worten, die Alten waren betroffen vom Los der Brüder, ihrem freudlosen Leben ohne den Trost der Götter und die Kriwaiten beschlossen ein Opferfest.

Die Waidelotten ermunterten sieben weitere junge Krieger, es Kaystute gleich zu tun und mit Geschenken beladen zu den Brüdern im Christenland aufzubrechen um dort jeder eine Schwester zu freien.

Andere waren des Lebens in der Abgeschiedenheit überdrüssig, seit sie wussten, wo ein anderes, wenn auch entweder unfreies oder den alten Glauben verleugnendes Leben in neuer Gemeinschaft zu finden war. Zu groß war der Reiz des Neuen, Fremden und auch etliche Jungfrauen flehten ihre Brüder an sie mitzunehmen, wenn sie sich zu neuen Ufern aufmachen wollten. Auch sie gingen in Frieden.

So leerte sich das abgeschiedene Dorf, allein die Alten, die Kriwaiten, die Waidelotten und Bartkos Familie blieben auf dem hohen Ufer des Flusses zurück.

Doch nach drei Monden jedoch kehrten die sieben jungen Krieger zurück und mit ihnen sieben junge Frauen, eine anmutiger und gescheiter als die andere.

Neues Leben füllte bald die Hütten. Glande und Kaystute, die beide wie vordem ihr Vater Bartko uralt wurden, teilten sich brüderlich die Nachfolge des Vaters, der längst zufrieden zu Perkunos gegangen war.

Ein neues kleines Galindervolk wuchs heran, lebte zufrieden und in Harmonie in der Abgeschiedenheit, die nicht einer von ihnen je wieder verließ. Kein Mensch fand je den Weg zu ihrem Dorf.

Nur manchmal erzählen auch heute noch einige Alte, sie hätten in den tiefsten Wäldern Masurens Stimmen gehört, die, als sie sich ihnen näherten riefen: Perkunos abgehle nus – Perkunos bewahre uns!