Masuren: Die Waldmenschen und die Pilzsaison

Pilze sammeln, Pfifferlinge und Steinpilze, Foto: Joadl, GFDL, CC-BY-SA-3.0-AT

Wenn die Tage kürzer werden und die Störche fort sind, abgeflogen ins warme Winterquartier im Süden Afrikas ist es langsam so weit, die Pilzsaison beginnt. Dass der Herbst naht, merkt man in Masuren wie in ganz Polen untrüglich daran, dass wahre Völkerscharen sich an den Bushaltestellen versammeln, meist in Gummistiefeln und mit Eimern aller Größen bewaffnet. Sie steigen dort wieder aus den Bussen, wo garantiert weit und breit kein Haus zu sehen ist, sondern nur Wald, nichts als Wald. Minuten später ist von der ungewöhnlichen Menschenansammlung nichts mehr zu sehen, der Wald scheint sie verschluckt zu haben. Wenige Stunden später tauchen sie wieder auf und versammeln sich an der Bushaltestelle, um zurück zu fahren. Ihre Eimer sind nun randvoll mit den schönsten frischen Pilzen. Für die Pfifferlinge wird es nun höchste Zeit, denn es gibt sie nur bis Ende August, Anfang September, danach machen sie sich sehr rar.

Zehn Millionen Polen sind nach Umfragen Pilzsammler, das heißt jeder vierte Pole. Diese Leidenschaft teilt das ganze Volk, egal ob arbeitslose Familienväter und Mütter, die ein Zubrot dringend benötigen oder der Millionär, der zur Entspannung und aus Tradition in den Wald geht. Auch das ist nämlich eine Tradition in Polen, Leben von und mit dem Wald. Die Polen haben ein ganz besonderes Verhältnis zum Wald, hat er sie doch immer wieder ernährt in schlechten Zeiten und wenn es ganz besonders schlimm kam auch versteckt vor Verfolgung. Sie kennen sich aus im Wald, wissen wo man welche Tiere beobachten kann, wo man die besten Pilze findet, wo ein fischreicher See versteckt ist.

Die Polen lieben ihren Wald, aber sie verklären ihn nicht mythisch wie die Deutschen es in der Vergangenheit taten mit ihrem viel besungenen »Deutschen Wald«. Und wer seinen Wald so gut kennt und liebt wie die Polen, der wird ihn pfleglich behandeln. Doch die Polen sind pragmatisch, in schlechten Zeiten wird auch schon einmal schwarz abgeholzt, man muss ja leben. Aber das geschah immer mit einer kleinen um Verzeihung bittenden Geste.

So hat jeder Pilzsammler in Polen seine geheimen Plätze, wo er Steinpilze in Massen findet, Pfifferlinge, Maronen oder die beliebten großen Parasole (Parasol, Riesenschirmpilz), die den Knollenblätterpilzen so ähnlich sehen, nur dass sie größer sind. Daheim in Scheiben schneiden, panieren wie ein Schnitzel und dann ausbacken. Wunderbar. Die Vielfalt der Pilzarten in Masuren ist beeindruckend: Etwa hundert verschiedene Pilzarten gibt es dort, da sollte man die eigene Ausbeute zur Sicherheit einem Pilzkenner aus der Region zeigen, bevor man die Pfanne anheizt.

»Mein Gott, sammelst Du jetzt Plastiktüten,« fragte ich eine Verwandte, als ich die Einkäufe im Kofferraum des Wagens verstaute. »Auch wo,« meinte sie fröhlich, »aber man könnte ja womöglich irgendwo am Wald vorbei kommen, es ist doch Pilzzeit.« So sind sie, die Polen, auch als Touristen. Zum Beispiel bei einem Kleinbahnausflug in Masuren. Mittags hält das Dampfbähnchen, damit die Passagiere Zeit zu einem Spaziergang im Wald haben. Der Unterschied ist unübersehbar. Die wenigen deutschen Mitfahrenden marschieren brav auf den Waldwegen direkt hinunter zum See. Weil sie sich nicht auskennen, sehen sie gar nicht, was es hier zu holen gibt. Anders die Polen. Vergnügt springen sie aus dem Zug, rasch die zusammen gelegten Plastiktüten entfaltend. Dann schwärmen sie aus und streifen in gebückter Haltung durch den Wald. Ihre Tüten sind prall mit herrlichen Pilzen gefüllt, als sie am See ankommen. Zeit genug für ein kleines Picknick ist ja immer noch. Ja. Die Masuren sind die wahren Waldmenschen.

Pilze findet man an vielen Durchgangsstraßen und in den Orten auf den Märkten, an den Kirchhofmauern, Busbahnhöfen, in den Fußgängerzonen und überall dort im Angebot finden, wo viele Menschen vorbeikommen. Meist befinden sie sich in Gläsern, seltener in Eimern oder Körben. Zur Preisberechnung braucht man keine Waage, abgerechnet wird nach Litern. Daheim werden sie dann verarbeitet, in der Pfanne gebraten, eingelegt, getrocknet und als unerlässliche Zutat zum Bigos oder Piroggen mit Pilzen (Pierogi z gzybami). Auch die ostpreußische Art mit Gelböhrchen (Pfifferlingen) mit etwas gewürfeltem Speck in der Pfanne gebraten und mit ordentlich Schmandsoße abgerundet. Lecker!