Der Deutsche Orden und sein Staat
Als Herzog Konrad von Masowien den Deutschen Orden im Jahr 1226 zur Hilfe rief, brauchte er ihn nicht etwa in seinem Herrschaftsbereich, sondern suchte Hilfe bei der Unterwerfung seiner heidnischen Nachbarn im baltische Pruzzenland, die sich weder erobern noch christianisieren ließen und Konrads eigenen Grenzen zusetzten. Konrads eigene Kreuzzüge waren gescheitert, und er erhoffte sich Unterstützung gegen die rebellischen Nachbarn und bei seinen eigenen Expansionsgelüsten. Nun war der Ritterorden zunächst durchaus ein stabilisierendes Element in der Region und Verbündeter Masowiens gegen die heidnischen Nachbarn. Das änderte sich, als der Deutsche Orden auf den eroberten Territorien – wie es ihm auch vom Papst zugestanden worden war – einen mächtigen Militärstaat schuf und das Machtgefüge zu seinen Gunsten veränderte.
Die Tannenbergschlacht – Kampf um die Vorherrschaft
Im Jahr 1309 wurde der Deutsche Orden abermals zu Hilfe gerufen, diesmal ging es um Pomerellen. Der Orden nutzte die Schwäche der polnischen Fürstentümer erbarmungslos aus. Zusammen mit den Brandenburgern vertrieb er auch gleich die Polen aus Pommerellen. Das Band war zerschnitten – für Jahrhunderte. Der Orden gewann mit dieser Eroberung die erhoffte Landverbindung zum Reich, was allerdings dem polnischen Streben nach direktem Zugang zur Ostsee entgegenstand. Die Unmöglichkeit einer Kompromisslösung war und blieb das Dilemma. So wurde der Mythos des landraubenden, mordenden und expansionslüsternen Kreuzritterordens zum ersten Deutschlandbild der Polen. Der Roman »Krzyzacy« (Die Kreuzritter) des polnischen Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz ist eines der bekanntesten Beispiele dieser Sichtweise. Jedem älteren Polen ist auch das Foto bekannt, das Bundeskanzler Konrad Adenauer im weißen Ordensmantel mit dem schwarzen Kreuz zeigt. Er hatte 1958 die Insignien eines Ordens- Hochmeisters erhalten und war tatsächlich als Ritter gewandet fotografiert worden, die polnische Propaganda brauchte das Bild nicht erst als Collage anzufertigen. Das Foto war so verbreitet, dass bald jeder Pole Adenauer mit einem grausamen Kreuzritter auf Ostlandritt gleichsetzte. Dieses Bild greift bis heute, sobald diffuse Ängste vor den übermächtigen Deutschen in Polen auftauchen.
Polnische Mythenbildung
In diesem Sinne wurde später auch die Tannenbergschlacht von 1410 von polnischer Seite instrumentalisiert. Sie galt fortan als großer Sieg Polen-Litauens über den räuberischen Deutschen Orden, dabei fand diese größte Schlacht des Mittelalters nicht zur Befreiung oder Behauptung polnischen oder litauischen Bodens statt, sondern es ging schlicht um die Vormachtstellung in der Region. Deutsche Nationalisten stilisierten die Machtprobe zu einer Schicksalsstunde des immer währenden Kampfes zwischen Polen und Deutschen, Slawen und Germanen, obwohl der Begriff der Nation zu jener Zeit noch gar keine Rolle spielte. Besonders in den dunklen Stunden der Nichtexistenz des polnischen Staates idealisierten Nationalisten die Schlacht von Grunwald, wie sie in Polen heißt, als Sieg der Einheit der polnisch-litauischen Nation. Der polnische Grunwaldmythos ist heute weit präsenter als der viel später begründete deutsche Tannenbergmythos, bleibt er doch als einer der wenigen großen Siege im geschichtlichen Bewusstsein der Polen, das ansonsten vom Teilungstrauma und ewigen Martyrium der Nation bestimmt ist.
Bis heute ist der Mythos Tannenberg / Grunwald sehr lebendig. Das größte Historienspiel Europas stellt mit Tausenden von Ritterdarstellern Jahr für Jahr am Jahrestag, dem 15. Juli das Schlachtgeschehen nach. Dabei handelt es sich um weit mehr als nur ein Volksfest und Spektakel für Zehntausende, das regelmäßig Jahr für Jahr mit mehr als 40000 Zuschauern den Verkehr in der Umgebung zum Erliegen bringt. Alljährlich geloben die polnischen Pfadfinder ihre Treue zur Nation im Grunwald-Appell. Auch die Treffen des polnischen und litauischen Präsidenten manifestierten bei allen runden Jubiläen die immer noch große Bedeutung für die polnische Geschichtsbetrachtung. Weil die Ritter allesamt Laiendarsteller sind, passieren im Schlachtengetümmel ach schon einmal Unfälle wie zum 590. Jubiläum im Jahre 2000, als der Darsteller des polnischen Königs Wladyslaw Jagiello vor den beiden Präsidenten vom Pferd fiel und ein Krankenwagen mit Martinshorn und Blaulicht auf das mittelalterliche Schlachtfeld raste, um den Verletzten abzutransportieren. Was noch wenige Jahre früher vor lauter Pathos nicht denkbar gewesen wäre, war jetzt möglich: Die Presse verarbeitete das Geschehen zu einer Glosse, und ganz Masuren lachte.
Deutsche Mythenbildung
Die größte Schlacht des Mittelalters von 1410 taugte allerdings weniger zum deutschen Mythos, da Niederlagen sich nun einmal nicht zum Feiern einladen. So hielt sich die Mythenbildung auf deutscher Seite zunächst in Grenzen. Auch gewichtete man die Bedeutung der Schlacht anders, da der Deutsche Orden zwar eine schwere Niederlage erlitten hatte, die Gebietsverluste nach dem Ersten Thorner Frieden von 1411 aber ohne entscheidende Bedeutung waren, da mit der Marienburg das Zentrum der Ordensmacht nicht gefallen war.
Der deutsche Tannenberg-Mythos ist viel jüngeren Datums und nahm seinen Ausgang in der Tannenbergschlacht vom August 1914, als die deutschen Verbände unter Hindenburg und Ludendorff die nach Ostpreußen eingefallenen russischen Truppen in der einzigen wirklich erfolgreichen Kesselschlacht des Ersten Weltkrieges besiegten. Ludendorff selbst schlug die Bezeichnung Tannenbergschlacht vor und nahm dabei deutlich Bezug auf 1410, er sah den Namen als Antwort auf den polnischen Grunwaldmythos.
Die Deutschen hatten in den 20-er Jahren des 20. Jh. auch ein Tannenbergehrenmal errichtet, gewaltig, riesig, nach der Beerdigung des Reichspräsidenten Hindenburg 1934 endgültig zum missbrauchten nationalen Wallfahrtsort gemacht. Deshalb wurde es auch nicht an einem Ort der aus mehreren Einzelschlachten bestehenden weiträumigen Geschehen errichtet, sondern verkehrsgünstig bei Hohenstein/Olsztynek, um neben dem dortigen Freilichtmuseum dort ein attraktives Angebotspaket für die nationalen „Wallfahrten“ der erhofften Volksmassen zu schnüren. Kein Stein davon ist geblieben in Olstynek/Hohenstein, nur der Bogen vom Einfahrtstor an der Straße Ostróda – Olsztynek ist noch erkennbar.
Die Tannenbergschlacht im Spiegel heutiger gemeinsamer Geschichtsschreibung
Die Beurteilung der Tannenbergschlacht ist das große Missverständnis bei der Betrachtung der Geschichte des Deutschen Ordens. Räumt man alle Legendenbildungen beiseite, war die Tannenbergschlacht von 1410 allenfalls der Anfang vom Ende der Ordensmacht, die erste wirklich schmerzliche Niederlage, mehr nicht. Das Machtzentrum blieb intakt, die Marienburg wurde nicht erobert. Keinesfalls bedeutete die Schlacht das Ende der Ordensmacht. Allenfalls war sie eine Art Initialzündung für deren Zerfallsprozess. Die Auflösung begann im Inneren, denn der Ordensstaat war unfähig, sich zu reformieren und Städten wie Landständen Mitspracherechte zu gewähren. Die Bevölkerung betrachtete die Ordensmacht zunehmend als Fremdregierung. Erst als der Preußische Bund, die Vereinigung von Landständen und Städten, nach dreizehn Jahren gesiegt hatte, war die Macht des Ordens endgültig gebrochen. Der Orden musste, um als Staatswesen überhaupt zu überleben, im Zweiten Thorner Frieden von 1466 weite Gebiete an Polen abtreten und den Hochmeistersitz von der Marienburg nach Königsberg (Kaliningrad) verlegen. Ein großer Teil seiner Territorien kam damals also unter polnische Lehnshoheit, auch der Zugang zur Ostsee. Letztlich war dies fast immer Hauptziel und Hauptkonfliktpunkt zwischen Polen und Deutschen, der einen Kompromiss ausschloss: Dem Deutschen Orden ging es um eine Landverbindung mit dem Deutschen Reich, den Polen um einen Zugang zum Meer.
Das Bild des Ordens zwischen grausamen, Land raubenden Ostlandrittern und kühner Speerspitze deutsch geprägter Ostkolonisation wurde in der Geschichtsschreibung lange kontrovers diskutiert. Unbestritten hingegen ist heute seine zivilisatorische Leistung.